Zürcher Kerzenziehen am Bürkliplatz
Wärme, Licht und Besinnlichkeit – die Faszination der Kerze und ihrer handwerklichen Entstehung
Ein eigenartiger Zauber geht vom Licht der Kerze aus – ein Zauber, der uns der Hetze des Alltags entrückt und uns mit einer Aura heiterer Gelassenheit umgibt. Fern von Elektronik, dem kalten Geflimmer von Neonröhren und Bildschirmen taucht die Kerze auch die nüchternste Umgebung in ein warmes, sinnliches Licht, das uns den täglichen Kleinkram vergessen lässt. Schon das Entstehen einer Kerze, ihr stetes Eintauchen in warmes, flüssiges, duftendes Bienenwachs, weckt Gefühle der Besinnlichkeit und des Glücks. Eine so geschaffene Kerze kann nur in Ruhe entstehen – vielleicht mit ein Grund für die wachsende Beliebtheit des vorweihnächtlichen Kerzenziehens.
Seit 1969 – Zürcher Kerzenziehen am Bürkliplatz
Aus bescheidenen Anfängen entwickelte sich das Kerzenziehen zu einer traditionellen vorweihnächtlichen Veranstaltung. In kürzester Zeit eroberte es im kulturellen Leben Zürichs einen festen Platz. Mitten im hektischen Vorweihnachtsrummel wurde im Stadtzentrum eine Oase der Besinnlichkeit geschaffen, auch ein Ort der Begegnung, wo sich Leute aller Schichten treffen und gemeinsam tätig werden.
Eine private Initiative
Es war das erste öffentliche Kerzenziehen überhaupt, das in der Weihnachtszeit 1969 stattfand. Initiant Michael Brons leitete damals die Freizeitanlage Zürich-Wollishofen und hatte es dort mit einer Gruppe ausgegrenzter junger Menschen zu tun. Diese schockierten mit einer eigenen Sprache, ruppigen Verhaltensweisen und standen in Opposition zu allem, was in ihren Augen «erwachsen» war. Brons wollte ihnen echte Erlebnisse vermitteln und Integrationshilfen bieten.
Während seiner Ausbildung zum Heilpädagogen war er auf das alte Handwerk Kerzenziehen gestoßen. Bald stellte er fest, dass auch bei seinen Jugendlichen Anklang fand, was ursprünglich als Therapie für seelenpflegebedürftige Menschen gedacht war. Mit Elan und Wettbewerbsgeist wurden sie denn auch bald zu eigentlichen Profis. So fasste Brons eine öffentliche Kerzenzieh-Aktion ins Auge, bei der die Jugendlichen ihr neuerworbenes Wissen und Können an ein breites Publikum weitergeben konnten.
Das Zürcher Kerzenziehen
Der Musikpavillon in der Stadthausanlage am Bürkliplatz, am Ende der Bahnhofstraße schien Brons dafür gut geeignet. Die Stadtbehörden willigten ein, und damit erhielt der meist verwaiste kleine Musentempel in der Adventszeit eine neue Funktion und brachte Licht und Wärme in die kalte Jahreszeit. So fand 1969 auf dem Bürkliplatz ein öffentliches Kerzenziehen statt – das erste von inzwischen 47.
Im Laufe der Jahre wurde das Zürcher Kerzenziehen von einer Hundertschaft freiwilliger Helfer, privaten Gönnern und Firmen unterstützt. So erzielte der Anlass zunehmend beachtliche Reingewinne, die an verschiedene Sozialwerke, wie Einrichtungen für betagte und behinderte Menschen und das Rettungswesen gingen. Mit dem Kerzenziehen am Bürkliplatz war es möglich, das Startkapital zur Gründung der Zürcher Eingliederung bereit zu stellen und diese Institution im Dienste behindeter Menschen über die Gründungszeit hinaus maßgebend zu unterstürtzen. In den vergangenen Jahren dienten die Mittel dem Aufbau und Betrieb einer öffentlichen Werkstatt, einem Ort der Begegnung, des Gesprächs und des gemeinsamen kunsthandwerklichen Tuns.
In der kleinen angegliederten Kerzenmanufaktur wurden zwei Arbeitsplätze für Menschen mit einer Behinderung eingerichtet, in der diese ihren Arbeit- und Tagesrhythmus finden und Kontakte pflegen konnten. Die Möglichkeit der Unterstützung und Förderung sozialer Einrichtungen wird auch in Zukunft das Zürcher Kerzenziehen prägen.
Vom Kerzenziehen
Bis zur Erfindung der Glühbirne war die Kerze eine der gebräuchlichsten Lichtquellen. Wachsschmelzer und Kerzenzieher bildeten einen eigenen Berufsstand. Diese Handwerker zogen von Haus zu Haus, um ihre Dienste stunden- und tageweise anzubieten. Wie so manches andere Kleinhandwerk auch, sind die Kerzenmacher aus unserem Alltag völlig verschwunden. Kerzen werden heute in Fabriken mit leistungsfähigen Maschinen und Automaten hergestellt, mit Ausnahme der handgezogenen Kerze. Dank der einfachen Abläufe ist das Kerzenziehen landauf landab wieder entdeckt worden und erfreut sich vor allem in der Adventszeit großer Beliebtheit – ein neuer schweizerischer Brauch ist entstanden. Der Ursprung des Wiederaufblühens dieser alten Handarbeit liegt am Ende der Zürcher Bahnhofstraße, im Kerzenpavillon beim Bürkliplatz.
Angeregt durch diese jährlich wiederkehrende Veranstaltung sind an vielen Orten größere und kleinere Kerzenziehen entstanden. Das nötige Know-how erwarben interessierte Organisationen aus der ganzen Schweiz an Einführungskursen, die von Michael Brons jedes Jahr angeboten wurden.
In der kalten Jahreszeit bringt die Kerze einen wohltuenden Kontrast zum fahlen Neonlicht. Die kleine Flamme scheint gleichsam unsere Herzen zu erwärmen, und manche besinnliche oder romantische Augenblicke sind ohne Kerzenlicht kaum denkbar.
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